„Aber morgen“ von Nordahl Grieg am Theater
Greifswald, Regie Fred Grasnick
Eine Blinde wird sehend
Dieses Schauspiel gehört zur reichen geistig-kulturellen Welt des internationalen Sozialismus. Es im Ostsee-Bezirk zur deutschen Erstaufführung gebracht zu haben, ist Verdienst des Greifswalder Theaters. Das 1936 geschriebene Stück bringt uns nicht eben neue Informationen über die Monopolbourgeoisie und ihre klassenbedingte Skrupellosigkeit bei der Vorbereitung von Kriegen. Im Zeichen der gegenwärtig akuten Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus jedoch stellen sich aktuelle Bezüge her, weil es schon in der Zeit seines Entstehens kritisch das Wesen des Imperialismus enthüllte.
Generaldirektor Sten, zögernd beim Einsatz
der Armee gegen streikende Arbeiter, erweist sich als erbarmungsloser
Ausbeuter, wenn es um das aufkommende Kriegsgeschäft geht. Er repräsentiert
norwegische nationale Bourgeoisie, jagt Mitarbeiter aus dem Werk, die Produktionsgeheimnisse
an die Nazis verraten, aber aus seiner Klassenbeschränktheit vermag er und will
er nicht ausbrechen. Nur Matti, seine blinde Tochter, wird — im übertragenen
Sinne — sehend durch das wache Erleben der um sie herum sich abspielenden Klassenauseinandersetzungen.
Noch kommen die Arbeiter nur, um ihre Toten zu holen. Aber morgen ... Und
Matti wird zu ihnen gefunden haben, blind, aber sehend.
Das Stück markiert politisch wie
künstlerisch das Vordringen des norwegischen Dichters zu revolutionären
Positionen, zum sozialen Realismus. Grieg zerstört Formen des bürgerlichen Konversationstheaters
durch episodische Abfolge. Er entwirft sozial determinierte Figuren, die
Familie Sten, die Arbeiter Haraldsen und Steinbö, nicht durchweg, manchmal
überwiegen noch psychologische Motivierungen oder sie gehen ganz verloren.
Deutlich bei der Gestalt des Paul Berner, einem zunächst Friedensappelle verfassenden
jungen Schriftsteller, der zum faschistoiden Mörder herabsinkt. Regisseur Fred
Grasnick entschied, weniger die konkrete historische Situation zu fassen als
vielmehr das Allgemeingültige an ihr, das über die Zeiten auch heute Gültige.
Also Sten nicht so sehr als der bestimmte, vor dem 2.Weltkrieg wirkende
norwegische Großbourgeois, eher als Prototyp des Humanität heuchelnden, in
Wahrheit skrupellos profithungrigen Ausbeuters. Unterstützt wird Grasnick durch
das den Handlungsort auf eine symbolhafte Ebene hebende Bühnenbild Michael
Gundermanns. Stellwände aus silbriger, spiegelnder Folie, Reichtum und Glanz
assoziierend. In die Szene gehängt schreiende Reklame oder stilisiertes
Baumgrün. Wenig Mobiliar, kaum Requisiten. Sinnfällig wird: Dies Geschehen verläuft
heute in westlicher bourgeoiser Welt kaum anders, eher vielfach potenziert.
Jedoch: das Transponieren ins Allgemeingültige
sollte nicht darauf verzichten herauszufinden und schaubar zu machen, was sich
konkret zwischen den Figuren abspielt; denn nur dadurch entstehen Figuren und beredte
Vorgänge. Das Stück über den Text zu liefern, macht es ungerechtfertigt zum
langatmigen Konversationsstück, das es nicht ist. Theatralische Posen — von
Helli Ohnesorge als Celine immerhin mit Charme und Kunstsinn eingesetzt —
reichen nicht aus, die Kompliziertheit der Figuren zu entschlüsseln.
Wer ist dieser Paul
Berner? Was bringt ihn dazu, den Bruder der blinden Matti, die er
zu lieben vorgibt, kaltblütig zu ermorden, als dieser ihn vor die Tür zu setzen
droht?
Und warum schleudert er das Geständnis des Mordes Celine, der in ihn verliebten
Mutter Mattis, als „Geschenk" höhnisch ins Gesicht? Ist dieser Berner ein
von Grieg genial vorausgeahnter Vertreter jener sozial bindungslosen
Anarchisten, die gestern linksradikale Flugblätter schreiben, heute für Mao
agitieren und morgen für Strauß zur Waffe greifen?
Fragen, die der Autor aufwirft, Regie und Darsteller aber offen lassen. Alfred Nicolaus
gibt nicht die Spur einer Deutung und Wertung des Berner, bewegt sich
gleichförmig im Arrangement des Regisseurs. Wie äußerlich dies geschieht,
zeigte ein schneller Gang zur
sitzenden Matti, in deren Schoß Berner heuchlerisch seinen Kopf bergen soll. In
der Premiere rannte der Darsteller so vehement und dadurch seinen Kopf in Mattis
Leib, daß der schwere Stuhl rückte. Es gab einige derart übersteuerte Aktionen.
Da schlägt der Arbeitervertreter Haraldsen (Wolfgang Bachmann) treu und
herzhaft in die von Sten (Martin
Süssenguth) dargebotene Hand ein, als begrüßten sich alte, vertraute Kumpel. Der
Autor gestaltet Auseinandersetzung, schamlose Anbiederung und dann Drohung des
Sten, prinzipienfestes Fordern des Gewerkschaftsvertreters. Die Regie arrangiert
den Arbeiter unterlegen in einen tiefen Sessel, anstatt kraftvoll als moralisch
und historisch Überlegenen
ins Zentrum der Situation, den Sten als agitierenden Biedermann, anstatt als erbärmlichen
Ausbeuter. Am ehesten gewinnen die Arbeiter figürliches Profil, Wolfgang
Bachmann als umsichtiger, erfahrener Vertreter der Gewerkschaft, Gerd Gallrein
als revolutionärer Heißsporn Steinbö.
Theater der Zeit,
4/1975